Lieber Roderik,
die Tage werden kürzer, und es scheint nun doch stramm auf den Winter zuzugehen. Ohne einen warmen Schal um die Schultern mag man das Zimmer nicht mehr verlassen, und draußen, vor allem in den Bergschluchten, pfeifft einem der Wind zumal so eisig um die Ohren, dass es auch einer Kapuze bedarf. Manch ein Inselbewohner scheint hier jedoch aus deutlich härterem Holz gemacht als ich es bin, und so sieht man neben jenen in Umhängen und Schals auch solche, die die beißende Kälte gar nicht zu bemerken scheinen. Erst kürzlich sah ich sogar eine Frau, die ein so hauchdünnes Kleid trug...
Elira ließ die Feder sinken und sah aus dem Fenster. Der trübe Himmel draußen schien seit Tagen nicht aufreißen zu wollen, so dass man sich beständig fragte, ob es immer noch nicht hell oder schon wieder dunkel sei. Der Blick aus ihrem Zimmer ging hauptsächlich zum Felshang, so dass man nicht allzu viel der Bäume zu sehen bekam, doch die aus ihrem Fenster sichtbare Krüppelbirke, die sich mittels überlanger Wurzeln und vermutlich irgendeiner Art von Birkenmagie am steinernen Hang festhielt, hatte mittlerweile fast all ihre Blätter an den unbarmherzigen Wind verloren.
Sie schauderte und sah zu ihren Zeilen hinab, um den letzten, begonnenen Satz nach kurzem Überlegen zu streichen. Sie strich in letzter Zeit recht oft begonnene Gedanken aus Briefen an Roderik. Es machte nichts. Elira gehörte zu den Personen, die alle Briefe und Nachrichten erst entwarfen, und dann nochmals sauber aufzeichneten. Keiner will ein Schreiben mit unbedachtem Wortlaut oder Tintenklecksen sehen, so hatte es ihr ihr Vater eingebläut.
"Schreib schön, schreib sinnvoll, schreib sachlich. Und halte dich kurz, um des Herrn Willen. Niemand interessiert sich so sehr für deine Gedanken, dass er mehr als eine Seite davon lesen wollen würde."
Ihre Briefe waren immer vorbildlich - und angemessen kurz.
Die Erkundung um den Fund der Kristalle, von dem ich demletzt berichtete, geht derweil voran. Ich will dich nicht mit Details um die bislang gewonnenen Erkenntnisse langweilen, diese sind am Ende lediglich von wissenschaftlichem Gehalt.
Sie drehte die Feder unruhig in den Fingern und verknickte sie prompt in ihrer Nervosität. Nichts davon war gelogen, und konnte doch der Wahrheit kaum ferner sein. Es war damit nicht direkt fair...oder korrekt, aber sie konnte Roderik unmöglich von Hornblume erzählen. Vielleicht würde er noch Interesse entwickeln. Vielleicht würde er jemanden senden, um einen Vorteil aus dem wehrlosen Geschöpf zu schlagen, oder gar selbst kommen. Vielleicht würde er die Information weiterverkaufen. Roderik war sehr gut darin, den Preis von etwas zu erkennen - jedoch nie den Wert.
Elira stellte mit sachtem Erstaunen fest, dass es sie ärgerte, zog die Feder gerade, und versuchte den Ärger mit Tinte und Papier zu unterdrücken.
Es wird dich allerdings sicherlich interessieren zu erfahren, dass es hier ein Schützenturnier gegeben hat. Es traten neben etlichen Menschen auch eine Waldelfe und eine Dunkelelfe an. Sicher freut es dich zu erfahren, dass Fenrik teilnahm, und trotz dieser schwersten Konkurrenz Vierter wurde. Gewonnen hatte natürlich die Waldelfe, wie erwartet. Sie heißt übrigens Varyariel und ist, wie man es von ihrer Art auch erwarten sollte, ein eindrucksvoll schönes Wesen. Zudem glaube ich, dass sie sich in ein Eichhörnchen verwandeln kann, aber ganz sicher bin ich mir da nicht.
Würde Roderik das für Flausen halten?
Die junge Frau runzelt die Stirn, die eigenen Zeilen musternd. Sicher, Verwandlungen von Magiern in bestimmte Tiere waren auch in ihrer Heimat nicht unbekannt. In Elerin ging sogar die Legende von einer Meisterin des Astralwirkens, die sich einst in eine Krähe verwandelt hatte, und dann für immer in dieser Gestalt verblieben war. Manchen Erzählenden zufolge sollte sie es wegen eines gebrochenen Herzens getan haben. Andere Geschichten sprachen vielmehr davon, dass sie sich in ihren Studien mit Nekromanten verbandelt hatte, und in Krähenform der Gerechtigkeit zu entfliehen trachtete. Wieder andere sprachen bewundernd von einem Experiment, dem die geflügelte Magistra ihr Leben gewidmet hatte: Eine Existenz als Krähe, zu Zwecken der Wissenschaft. Und natürlich gab es auch jene, die davon ausgingen, dass die Magierin lediglich ein missgünstiges altes Weib war, das auf diese Weise die Nachbarschaft terrorisieren wollte. Was immer es jedoch war, und ob überhaupt ein Korn Wahrheit in der Geschichte lag, blieb am Ende verborgen: Doch gehörte es in Elerin stets zum guten Ton, Krähen zuvorkommend zu behandeln, was die geflügelten Biester über Jahre zu einer Plage für die Stadt hatte werden lassen.
Elira beschloss, dass das mit dem Eichhörnchen womöglich doch nicht so wild klang, und bog die Feder in ihrer Hand wieder gerade. Sie musste mit dem Knicken aufpassen.
Weniger erfreulich ist jedoch der Ärger, den uns manche Dunkelelfen machen. Du musst wissen, es gab auch einen Wettbewerb der scharfen Worte, im Übrigen ausgerichtet von dem gleichen Herrn Tyladriel, der auch das Schützenturnier vorstellte. Dort fochten Fenrik und Lin gegen Einige des dunklen Volkes und sollen dabei so spitzzüngig gewesen sein, dass es gewisse Ressentiments zurückließ. Ich selbst war bei dem Duell nicht dabei, ließ mir aber sagen, dass es wohl recht boshaft zuging. In jedem Falle wird nun ein Lobpreisen der Oberin des Dunkelelfen gefordert. Ich glaube, Fenrik ließ ihr bereits eine Rose zukommen, und wir hoffen, dass sich die Sache damit legt. Du brauchst dich also nicht zu sorgen. Für die Zukunft werde ich den Anderen davon abraten, an weiteren orginellen Wettbewerben des Herrn Tyladriel teilzunehmen. Am Ende könnte die Insel nicht genügend Rosenbüsche haben.
Das würde er nicht mögen. Keinesfalls. Elira starrte auf die Zeilen hinab. Das würde er ganz und gar nicht mögen. Es wäre besser, das zu streichen. Besser, von etwas Angenehmerem zu berichten, oder von Schwierigkeiten, die nicht ganz so einprägsam waren. Von dem Dauergerüst um die Bäckerstube beispielsweise, und wie es Aussicht verdarb. Oder von Elnoras Herausforderung an den Bürgermeister Nebelhafens. Roderik mochte Politik, und das fiel mit Sicherheit darunter. Man könnte auch etwas über die Handelssituation von Nebelhafen schreiben (es gab keine Situation) oder die Ernte (vermutlich wurde irgendwo etwas geerntet).
Man könnte... Ein Knacken riss die junge Frau aus den Gedanken. Einige Atemzüge lang starrte sie leeren Kopfes die Sumpfhuhnfeder an, die letztendlich gebrochen in ihren angespannten Fingern hing. Der Blick glitt voran, zu den eigenen Zeilen. Den Tintenklecksen. Den begonnenen und nie vollendeten Sätzen, den gestrichenen Worten und verschluckten Gedanken.
Elira saß noch einige Minuten still da und sah hinab. Schließlich fasste sie die kaputte Feder langsam nahe der Spitze, tauchte sie ein, die Finger mit Tinte beschmierend, und setzte einen Gruß unter die Zeilen. Dann nahm sie das Schreiben auf, faltete es, und steckte es in einen Umschlag. Es war mühsam, ihre Finger zitterten. Vor Ärger, wie sie mit hintergründigem Staunen analysierte. Nein. Die Erkenntnis kam einen Augenblick später.
Vor Wut.