Nachtschwärmerin
Hast du einen Freund hienieden,
Trau ihm nicht zu dieser Stunde,
Freundlich wohl mit Aug und Munde,
Sinnt er Krieg im tück'schen Frieden.
Was heut müde gehet unter,
Hebt sich morgen neugeboren.
Manches bleibt in Nacht verloren -
Hüte dich, bleib wach und munter!
Joseph von Eichendorff
Hast du einen Freund hienieden,
Trau ihm nicht zu dieser Stunde,
Freundlich wohl mit Aug und Munde,
Sinnt er Krieg im tück'schen Frieden.
Was heut müde gehet unter,
Hebt sich morgen neugeboren.
Manches bleibt in Nacht verloren -
Hüte dich, bleib wach und munter!
Joseph von Eichendorff
~ 16 Jahre zuvor ~
Sie betrachtete das Spiegelbild ihrer selbst und versuchte das nervös pochende Herz in ihrer Brust zu beruhigen, in dem sie mit den kleinen Fingern fest das Amulett umschloss, welches um ihren Hals hing. Ein schimmernder Nachtfalter aus dunkelblauen Metall, befestigt an einer einfachen Silberkette - eine simple Arbeit, aber immerhin das Zeichen der Familie.
Seit wenigen Mondläufen hatte sie ihren zwölften Geburtstag hinter sich gebracht und das bedeutete, dass sie dieses Jahr zum ersten Mal auf dem großen Familientreffen der Vallardi dabei sein durfte. Ein neuer Schritt auf ihrem Pfad, eine neue Welt, die sich ihr offenbaren würde und etwas, für das sie seit frühen Kindheitstagen gelehrt und trainiert wurde.
So festlich und herzlich in manchen Ohren wohl das Wort “Familientreffen” klingen würde, so sah es bei den Vallardis gänzlich anders aus. Es war ein Zusammenkommen aller Familienzweige, fünf an ihrer Zahl, alle mehr oder weniger groß und alle mehr oder weniger miteinander verwandt und ausgeprägt in ihrem Einfluss. Ein gegenseitiges Abschätzen, Prüfen und Ausloten der Möglichkeiten, verdeckt unter dem schmalen Tarnmantel von familiärem Zusammenhalt. Doch am Ende sollte man in einem unbedachten Moment keinem den Rücken zudrehen.
Welche Familie würde in diesem Jahr welche Zuweisung von Geschäften bekommen und wessen Wort würde diesmal mehr Gewicht finden? Welche Söhne oder Töchter vallardischen Blutes würden sich besonders hervorheben, um für die Zwecke der Familie eingesetzt zu werden? Was wären die nächsten Ziele für das kommende Jahr und welcher Zweig durfte federführend agieren?
Dieses Jahr wäre sie nur ein kleiner Teil des Ganzen, es war vermutlich eher ein Vorführen der “Frischlinge”, damit der Familienzweig vor aller Augen bezeugen konnte, dass gesunde Nachkommen bestehen würden, denn wer würde schon für einen Zweig einstehen, der keine Früchte tragen würde? Aufregend war es dennoch, sie hatte bisher nur von diesem uralten, sagenumwobenen Abend gehört und die Worte ihrer Mutter rangen in ihren Ohren, wie wichtig und schwer diese Stunden nach dem Abendrot wären. Ginessa wusste um die Last, die auch sie zu tragen hatte, es war ihr in die Wiege gelegt worden und jedes Kind mit vallardischen Blut wurde entsprechend erzogen. Keine Kindheit, wie man sie sich vorstellen würde - aber eben die einzige, die sie kannte. Eine Erziehung, geprägt von strengen Vorsätzen, umfangreichen Ausbildungen und unzähligen Aufgaben. Für sie war es keine Last als solche, es war ihre Pflicht, ihre Bestimmung.
Vor vielen Generationen noch gehörte die Familie der Vallardi zu eben jenen, die Ephento bewohnen durften, eine sogenannte “Hohe Familie”, Blut mit Einfluss und Macht. Verrat jedoch, ließ den Namen in der Dunkelheit der Nacht versickern und aus den farbenprächtigen Tagfaltern wurden über die Jahrzehnte die Nachtschwärmer Istrayms. Nachtschwärmer, die ihr Netz aus Intrigen und Lügen durch den Untergrund sponnen und keinen Schritt vor den anderen taten, ohne dass ein gewisser Hintergedanke damit verbunden war. Sie hatten es geschafft den größten Bereich des Schwarzhandels für sich zu beanspruchen, hatten zahlreiche Schmuggelwege gesichert und letztendlich befanden sich im Hafenbereich von Istraym “Yham” einige Spelunken und Tavernen die der Familie zugehörig waren. Besitz, der gewiss nicht ohne Preis einherging, denn ein Vallardi wurde geboren, um seiner Familie zu dienen - jeder hatte seine Rolle zu spielen und dafür Sorge zu tragen, dass das für die Öffentlichkeit meist unsichtbare Netz aus Macht nicht zerriss. Aus diesem Grund wurden die Söhne der Familienzweige eingesetzt, um die Erbfolge zu sichern, die Töchter allerdings trugen die Verantwortung, Macht und Einfluss zu vermehren, indem sie Bindungen mit anderen Familien oder Gemeinschaften eingingen. Bindungen, die das Blut vermischen würden, um den Vallardi einen Vorteil zu verschaffen. Diese Verbindungen waren manchmal für die Ewigkeit gedacht, manchmal jedoch auch nur eine temporäre Handlung, in der gewartet wurde, bis ein Erbe geboren wurde, der die Macht schließlich, unter dem Einfluss der vallardischen Mutter, zurück zu den Wurzeln brachte. Vornehmlich musste für diesen Zweck der Vater sein Leben lassen, natürlich durch einen tragischen Unfall.
Ginessa war stolz auf ihr Blut und ihre Familie - sie hatte es nicht anders gelernt und wurde mit jedem Atemzug ihres Lebens darauf eingestimmt. Sie hatte so viele Geschichten gehört und war Feuer und Flamme dafür, diese Geschichte weiterzuführen und ihre Pflicht zu erfüllen. Entsprechend war ihr 12-jähriges Ich der vollen Überzeugung, dass dies, ein ganz besonderer Abend für sie werden würde. Das schlichte, nachtblaue Kleid der “jungen Nachtschwärmer” fiel locker am Körper hinab und das lange, schneeweiße Haar war zum typischen “vallardischen” Flechtzopf verwoben. Eine unauffällige Maske komplementierte das Bild und zeichnete sie für diesen Abend als “Jüngste” aus, nichts, auf das viel Aufmerksamkeit liegen sollte, aber auch keine Person, die
nicht von aller Augen prüfend betrachtet werden würde.
Sie vernahm das Knarzen der Tür hinter sich und wusste, dass das ihre Mutter war, um sie mitzunehmen.
Es würde losgehen.
~ 10 Jahre zuvor ~
Wieder war diese Nacht des Jahres gekommen, wieder würden sich die fünf Zweige der Familie versammeln und sich gegenseitig falschen Honig um das Maul schmieren.
Wieder stand Ginessa in diesem Raum und starrte in das Spiegelbild vor sich, das sechste Jahr in Folge.
Wieder befand sich das lange, mittlerweile bis zur Hüfte reichende, silberweiße Haar im typischen familiären Zopfmuster geflochten und wieder hatte sie ein Kleid zu tragen, was ihre Stellung für diesen Abend verdeutlichen würde.
Dieses Mal jedoch trug sie zum ersten Mal das schimmernde und kunstvoll gestaltete Nachtfalterkleid der Familie, ein traditionelles Kleid, aus alten Tagen. Wie so viele Dinge, die man von “damals”, als sie noch ihren Sitz in Ephento hatten, festgehalten wurde. Dieses Kleid würde sie heute als jene Tochter des Zweiges ausweisen, welche bereit wäre für Wichtiges eingesetzt zu werden… und sie hasste es. Verschwunden waren über die Jahre die kindliche Freude und der Glaube, es wäre ihre unabdingbare Pflicht, ihr Leben für ihr Blut zu geben. Die letzten sechs Jahresläufe waren mehr denn je davon geprägt, dass sie zu lernen hatte, was sie in den Augen ihrer Familie für die Zukunft brauchte, denn jede vallardische Frau sollte in der Lage sein, zwei Seiten vollkommen überzeugend zu präsentieren. Den schillernden Tagfalter, der sich wusste in höfischer Manier zu verhalten und der dunkle Nachtschwärmer, der in der Lage war alles zu tun, was nötig wäre. Die Unschuld und die Diebin, die Freundliche und die Täuscherin. Licht und Schatten in einer Person vereint - eine schwere Aufgabe und doch wurde sie schon den kleinsten Kindern auferlegt. Selbstständigkeit fern der Familie oder gar Pläne, die sie fort von dem ihr vorbestimmten Weg führen würden, waren untersagt und wurden beim kleinen Anzeichen im Keim erstickt. Man lebte für die Familie. Die oberste Regel.
Unzählige Narben und Wunden zeugten davon, dass sie gelernt hatte dieser “Bestimmung” zu folgen und entgegengesetzt so manch familiären Traditionen waren diese ein gutes Zeichen. “Ein Vallardi der keine Narben besitzt, ist feige oder faul. Kämpfe Ginessa.” Worte, die sich in ihr Gedächtnis verankert hatten, wann immer ihr als Kind die Muskeln brannten und sie glaubte, nicht mehr weiter zu können. Aufgeben gab es jedoch nicht und Zorn schürte das Verlangen weiterzumachen. Gab man auf, konnte man sich sicher sein, dass die folgenden Lehrstunden noch härter und unerbittlicher wurden.
Mit einem tiefen Durchatmen starrte sie weiter in ihr so verkehrt wirkendes Spiegelbild, während der unvermeidliche Abend immer näher rückte und alles, woran sie denken konnte... und wollte, war die Unendlichkeit des Meeres. Sie versuchte sich auf die Erinnerung zu konzentrieren, wie das Rauschen der Wellen in ihren Ohren klang, wie der Wind sich in ihren Haaren anfühlte und wie der Geschmack des Salzes auf der Zunge lag. Etwas, was ihr früh geholfen hatte, die Beherrschung nicht zu verlieren. Sie hörte die Schritte im Flur vor dem Raum, ehe sie das altbekannte Knarzen der Tür vernahmt - sie wusste, was hinter ihr passierte und was darauf folgen würde.
Ein Vallardi wusste so etwas. Hatte so etwas zu wissen.