Nachtschwärmerin

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Kalea H. Kranhain
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Nachtschwärmerin

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Hast du einen Freund hienieden,
Trau ihm nicht zu dieser Stunde,
Freundlich wohl mit Aug und Munde,
Sinnt er Krieg im tück'schen Frieden.

Was heut müde gehet unter,
Hebt sich morgen neugeboren.
Manches bleibt in Nacht verloren -
Hüte dich, bleib wach und munter!

Joseph von Eichendorff


~ 16 Jahre zuvor ~

Sie betrachtete das Spiegelbild ihrer selbst und versuchte das nervös pochende Herz in ihrer Brust zu beruhigen, in dem sie mit den kleinen Fingern fest das Amulett umschloss, welches um ihren Hals hing. Ein schimmernder Nachtfalter aus dunkelblauen Metall, befestigt an einer einfachen Silberkette - eine simple Arbeit, aber immerhin das Zeichen der Familie.
Seit wenigen Mondläufen hatte sie ihren zwölften Geburtstag hinter sich gebracht und das bedeutete, dass sie dieses Jahr zum ersten Mal auf dem großen Familientreffen der Vallardi dabei sein durfte. Ein neuer Schritt auf ihrem Pfad, eine neue Welt, die sich ihr offenbaren würde und etwas, für das sie seit frühen Kindheitstagen gelehrt und trainiert wurde.
So festlich und herzlich in manchen Ohren wohl das Wort “Familientreffen” klingen würde, so sah es bei den Vallardis gänzlich anders aus. Es war ein Zusammenkommen aller Familienzweige, fünf an ihrer Zahl, alle mehr oder weniger groß und alle mehr oder weniger miteinander verwandt und ausgeprägt in ihrem Einfluss. Ein gegenseitiges Abschätzen, Prüfen und Ausloten der Möglichkeiten, verdeckt unter dem schmalen Tarnmantel von familiärem Zusammenhalt. Doch am Ende sollte man in einem unbedachten Moment keinem den Rücken zudrehen.

Welche Familie würde in diesem Jahr welche Zuweisung von Geschäften bekommen und wessen Wort würde diesmal mehr Gewicht finden? Welche Söhne oder Töchter vallardischen Blutes würden sich besonders hervorheben, um für die Zwecke der Familie eingesetzt zu werden? Was wären die nächsten Ziele für das kommende Jahr und welcher Zweig durfte federführend agieren?

Dieses Jahr wäre sie nur ein kleiner Teil des Ganzen, es war vermutlich eher ein Vorführen der “Frischlinge”, damit der Familienzweig vor aller Augen bezeugen konnte, dass gesunde Nachkommen bestehen würden, denn wer würde schon für einen Zweig einstehen, der keine Früchte tragen würde? Aufregend war es dennoch, sie hatte bisher nur von diesem uralten, sagenumwobenen Abend gehört und die Worte ihrer Mutter rangen in ihren Ohren, wie wichtig und schwer diese Stunden nach dem Abendrot wären. Ginessa wusste um die Last, die auch sie zu tragen hatte, es war ihr in die Wiege gelegt worden und jedes Kind mit vallardischen Blut wurde entsprechend erzogen. Keine Kindheit, wie man sie sich vorstellen würde - aber eben die einzige, die sie kannte. Eine Erziehung, geprägt von strengen Vorsätzen, umfangreichen Ausbildungen und unzähligen Aufgaben. Für sie war es keine Last als solche, es war ihre Pflicht, ihre Bestimmung.

Vor vielen Generationen noch gehörte die Familie der Vallardi zu eben jenen, die Ephento bewohnen durften, eine sogenannte “Hohe Familie”, Blut mit Einfluss und Macht. Verrat jedoch, ließ den Namen in der Dunkelheit der Nacht versickern und aus den farbenprächtigen Tagfaltern wurden über die Jahrzehnte die Nachtschwärmer Istrayms. Nachtschwärmer, die ihr Netz aus Intrigen und Lügen durch den Untergrund sponnen und keinen Schritt vor den anderen taten, ohne dass ein gewisser Hintergedanke damit verbunden war. Sie hatten es geschafft den größten Bereich des Schwarzhandels für sich zu beanspruchen, hatten zahlreiche Schmuggelwege gesichert und letztendlich befanden sich im Hafenbereich von Istraym “Yham” einige Spelunken und Tavernen die der Familie zugehörig waren. Besitz, der gewiss nicht ohne Preis einherging, denn ein Vallardi wurde geboren, um seiner Familie zu dienen - jeder hatte seine Rolle zu spielen und dafür Sorge zu tragen, dass das für die Öffentlichkeit meist unsichtbare Netz aus Macht nicht zerriss. Aus diesem Grund wurden die Söhne der Familienzweige eingesetzt, um die Erbfolge zu sichern, die Töchter allerdings trugen die Verantwortung, Macht und Einfluss zu vermehren, indem sie Bindungen mit anderen Familien oder Gemeinschaften eingingen. Bindungen, die das Blut vermischen würden, um den Vallardi einen Vorteil zu verschaffen. Diese Verbindungen waren manchmal für die Ewigkeit gedacht, manchmal jedoch auch nur eine temporäre Handlung, in der gewartet wurde, bis ein Erbe geboren wurde, der die Macht schließlich, unter dem Einfluss der vallardischen Mutter, zurück zu den Wurzeln brachte. Vornehmlich musste für diesen Zweck der Vater sein Leben lassen, natürlich durch einen tragischen Unfall.

Ginessa war stolz auf ihr Blut und ihre Familie - sie hatte es nicht anders gelernt und wurde mit jedem Atemzug ihres Lebens darauf eingestimmt. Sie hatte so viele Geschichten gehört und war Feuer und Flamme dafür, diese Geschichte weiterzuführen und ihre Pflicht zu erfüllen. Entsprechend war ihr 12-jähriges Ich der vollen Überzeugung, dass dies, ein ganz besonderer Abend für sie werden würde. Das schlichte, nachtblaue Kleid der “jungen Nachtschwärmer” fiel locker am Körper hinab und das lange, schneeweiße Haar war zum typischen “vallardischen” Flechtzopf verwoben. Eine unauffällige Maske komplementierte das Bild und zeichnete sie für diesen Abend als “Jüngste” aus, nichts, auf das viel Aufmerksamkeit liegen sollte, aber auch keine Person, die
nicht von aller Augen prüfend betrachtet werden würde.
Sie vernahm das Knarzen der Tür hinter sich und wusste, dass das ihre Mutter war, um sie mitzunehmen.
Es würde losgehen.


~ 10 Jahre zuvor ~

Wieder war diese Nacht des Jahres gekommen, wieder würden sich die fünf Zweige der Familie versammeln und sich gegenseitig falschen Honig um das Maul schmieren.
Wieder stand Ginessa in diesem Raum und starrte in das Spiegelbild vor sich, das sechste Jahr in Folge.
Wieder befand sich das lange, mittlerweile bis zur Hüfte reichende, silberweiße Haar im typischen familiären Zopfmuster geflochten und wieder hatte sie ein Kleid zu tragen, was ihre Stellung für diesen Abend verdeutlichen würde.

Dieses Mal jedoch trug sie zum ersten Mal das schimmernde und kunstvoll gestaltete Nachtfalterkleid der Familie, ein traditionelles Kleid, aus alten Tagen. Wie so viele Dinge, die man von “damals”, als sie noch ihren Sitz in Ephento hatten, festgehalten wurde. Dieses Kleid würde sie heute als jene Tochter des Zweiges ausweisen, welche bereit wäre für Wichtiges eingesetzt zu werden… und sie hasste es. Verschwunden waren über die Jahre die kindliche Freude und der Glaube, es wäre ihre unabdingbare Pflicht, ihr Leben für ihr Blut zu geben. Die letzten sechs Jahresläufe waren mehr denn je davon geprägt, dass sie zu lernen hatte, was sie in den Augen ihrer Familie für die Zukunft brauchte, denn jede vallardische Frau sollte in der Lage sein, zwei Seiten vollkommen überzeugend zu präsentieren. Den schillernden Tagfalter, der sich wusste in höfischer Manier zu verhalten und der dunkle Nachtschwärmer, der in der Lage war alles zu tun, was nötig wäre. Die Unschuld und die Diebin, die Freundliche und die Täuscherin. Licht und Schatten in einer Person vereint - eine schwere Aufgabe und doch wurde sie schon den kleinsten Kindern auferlegt. Selbstständigkeit fern der Familie oder gar Pläne, die sie fort von dem ihr vorbestimmten Weg führen würden, waren untersagt und wurden beim kleinen Anzeichen im Keim erstickt. Man lebte für die Familie. Die oberste Regel.

Unzählige Narben und Wunden zeugten davon, dass sie gelernt hatte dieser “Bestimmung” zu folgen und entgegengesetzt so manch familiären Traditionen waren diese ein gutes Zeichen. “Ein Vallardi der keine Narben besitzt, ist feige oder faul. Kämpfe Ginessa.” Worte, die sich in ihr Gedächtnis verankert hatten, wann immer ihr als Kind die Muskeln brannten und sie glaubte, nicht mehr weiter zu können. Aufgeben gab es jedoch nicht und Zorn schürte das Verlangen weiterzumachen. Gab man auf, konnte man sich sicher sein, dass die folgenden Lehrstunden noch härter und unerbittlicher wurden.

Mit einem tiefen Durchatmen starrte sie weiter in ihr so verkehrt wirkendes Spiegelbild, während der unvermeidliche Abend immer näher rückte und alles, woran sie denken konnte... und wollte, war die Unendlichkeit des Meeres. Sie versuchte sich auf die Erinnerung zu konzentrieren, wie das Rauschen der Wellen in ihren Ohren klang, wie der Wind sich in ihren Haaren anfühlte und wie der Geschmack des Salzes auf der Zunge lag. Etwas, was ihr früh geholfen hatte, die Beherrschung nicht zu verlieren. Sie hörte die Schritte im Flur vor dem Raum, ehe sie das altbekannte Knarzen der Tür vernahmt - sie wusste, was hinter ihr passierte und was darauf folgen würde.
Ein Vallardi wusste so etwas. Hatte so etwas zu wissen.
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Kalea H. Kranhain
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Ans Haff nun fliegt die Möwe,
Und Dämmrung bricht herein;
Über die feuchten Watten
Spiegelt der Abendschein
Graues Geflügel huschet
Neben dem Wasser her;
Wie Träume liegen die Inseln
Im Nebel auf dem Meer.

Ich höre des gärenden Schlammes
Geheimnisvollen Ton,
Einsames Vogelrufen –
So war es immer schon.

Noch einmal schauert leise
Und schweiget dann der Wind;
Vernehmlich werden die Stimmen,
Die über der Tiefe sind.

Theodor Storm


~ 8 Jahre zuvor ~

Am Horizont waren bereits die schwachen Anzeichen der Morgendämmerung zu erkennen, die sich in einer rötlich-orangen Färben abzeichneten und das erste Licht in das Hafengebiet Yham brachten. Wie die Nacht die Herrschaft langsam an den Tag übergeben musste, so erwachte auch nach und nach das geschäftige Treiben am Pier und auf den geankerten Schiffen. Hafenarbeiter, die zur morgendlichen Schicht noch verschlafen aus dem Schatten ihrer Häuser oder Kajüten krochen, während Ginessa jedoch auf dem Weg nach Hause war. Für sie war über die letzten Jahre die Nacht zum Tag geworden, in der Dunkelheit war es einfacher vor störenden Blicken zu verschwinden und sie hatte es sich zur Aufgabe gemacht, ein eher unliebsames Familienmitglied zu sein. Sie war der Nautilus beigetreten, eine Gilde, die ihr Zuhause auf einer alten Galeone gefunden und sich den Winden und dem Meer verschrieben hatte. Ihre Mitglieder kannten die Geheimnisse des Nebels, wussten, wie sie durch jenen navigieren und mit reichlicher Ware heimkehren konnten. Es gab auch durchaus Zweifler unter ihnen, jene, die durch ihre lange Zeit auf dem Meer die Macht des Patrons anzweifelten, aber diese Ansicht wurde oft eher unter einem schweren Mantel der Schweigsamkeit gehalten. Zweifler waren nie gerne gesehen.
Ihre Mitgliedschaft in der Nautilus allein war nicht unbedingt das Ärgernis im Auge der Familie, immerhin waren die Vallardi selber eng mit dem Meer verwoben und so gab es einige von Ihnen, die der Nautilus zugehörig waren - viel mehr waren es die nächtlichen Aktivitäten, das Fernbleiben von offiziellen Anlässen und die stoische Weigerung der Tradition nachzukommen.

Einen halben Stundenlauf verweilte Ginessa noch in der Morgendämmerung, beobachtete wie so oft das Treiben des erwachenden Hafengebietes, während der Himmel immer heller und kräftiger in seiner blauen Färbung wurde. Diese halbe Stunde jeden Morgen war ihr kleiner Moment des Friedens. Die Schwelle zwischen einer zumeist unterhaltsamen und bunten Nacht, gegenüber einem langweiligen und ödem Tag unter den Regeln der Vallardis. Sie genoss den milden, leicht salzigen Wind, der in seiner typischen Kälte vom Meer heraus kam und der Geruch von diesem in Kombination mit Algen und Fisch. Ein Geruch, der bestimmt nicht von jeden geliebt wurde, aber für sie bedeutete er Freiheit. Irgendwann jedoch fand jeder dieser Momente sein Ende und sie musste sich auf den Weg machen, den Pier entlang, in eine der breiteren Straßen hinein, wo das Familienanwesen ihres Zweiges, samt angrenzender Taverne, seinen Platz gefunden hatte. Auf geübt leisen Sohlen betrat sie das Anwesen durch den Hintereingang und schon hörte sie es scheppern. Kein Scheppern, wie man es erwarten würde, wenn jemand aus Versehen etwas fallen ließ, sondern dies klang eher wie das absichtliche Zertrümmern von Töpferware.

»DAS GEHT SO NICHT!«

Der von Zorn gefärbte Ausruf ihres Vaters drang vom Speisezimmer bis hinüber zum Eingangsbereich und unweigerlich ließ jener die Mundwinkel von Ginessa hinauf zucken. Es war also einer dieser Morgenstunden, ihr Tun hatte sich wohl schon herumgesprochen. Was nicht verwunderlich war, denn als ihre Eltern Wind davon bekamen, was ihre Tochter in den Nächten trieb, hatten sich rasch einige Augen und Ohren gefunden, welche nach ihr Ausschau halten würden. Das störte den Weißschopf allerdings nicht - es war im Grunde genau das, was sie wollte.
Leichtfüßig näherte sie sich der Geräuschquelle, sie wusste genau, welche Diele sie betreten und welche sie auslassen mussten, damit sie ohne ein nennenswertes Geräusch ankommen würde.

»Es ist bestimmt nur… so ein… Zeitraum… in ihrer Entwicklung. Ein Aufbegehren, das legt sich...«

Die Worte ihres Bruders klangen deutlich hinüber, offenbar dachte man noch, sie wäre nicht im Haus. Doch selbst wenn, dann würde man die Worte, wie negativ sie auch waren, vermutlich dennoch nicht vor ihr geheim halten. Sie lehnte sich vorsichtig gegen einen Schrank im Flur, während nur wenige Schritt neben ihr die offene Tür zum Speisesaal war. Von hier würde sie sicherlich alles mitbekommen.

»Matteo!«

Die scharfen Worte ihrer Mutter schnitten herrischer, die ihres Bruder ab und jener verstummte jäh. Er hatte oft genug versucht, das Handeln seiner Schwester irgendwie noch positiv darzustellen, entgegen der Tatsache, dass er es besser wusste und so überraschte es Ginessa für wenige Herzschläge, dass er noch immer daran festhielt. Dumm… einfach nur dumm von ihm, das würde weder Mutter, noch Vater gefallen. Kurz vernahm sie nur undeutliches Gebrummel, allgemein unzufriedener Natur, bis erneut die Stimme des Vaters erklang.

»Sie kann so nicht weiter machen. Ginessa kann nicht Nacht für Nacht durch Yham ziehen, Spelunke für Spelunke und sich dort verhalten wie… wie… «

Die aufgebrachten Worte ihres Vaters verschluckten sich am Ende, als wäre er nicht einmal in der Lage ihr nächtliches Treiben in Worte zu fassen und sie vernahm nur das genervt-resignierte Seufzen der Mutter.

»Wie eine billige Dockschwalbe, Marcello. Sag es ruhig.«

Ungewohnt freundliche Ausdruckswahl. Unweigerlich zuckten die Mundwinkel der Weißhaarigen hinauf, während sie das empörte Schnauben ihres Vaters vernahm und ein mehr ergebenes Seufzen ihres Bruders, als hätte jener gerade eingesehen, dass er hier keine Macht besitzen würde. Ihre Aktivitäten trugen Früchte, denn nicht nur ihre Eltern und somit ihr Zweig der Familie würden darum wissen, sondern auch alle anderen Vallardi und man würde sich hüten eine faule Frucht vorerst für politische Zwecke einzusetzen, bevor sie alle anderen ansteckte.

»Ich dachte, die Nautilus würde ihr ein wenig mehr Verantwortungsbewusstsein beibringen, aber sie verhält sich noch schlimmer! Hast du mitbekommen, mit wem sie vorletzte Nacht unterwegs war? Mit einem Argento! EINEM ARGENTO.«

Die Worte ihres Vaters steigerten sich wieder in ein wütendes Schnaufen, bis er sich beinahe verschluckte und sie vernahm nur leise Worte ihrer Mutter, bei dem Versuch das zornige Gemüt zu beruhigen. Erneut erhob ihr Bruder die Stimme, bei dem Versuch auf irrationale Art und Weise die Handlungen seiner Schwester in einem weniger schlimmen Licht darstellen zu lassen.

»Zugegeben… sie wusste nicht… dass es eine Silberschlange war…«

Stille. Sie konnte förmlich die Anspannung in der Luft spüren, bis ein Geräusch jene Stille zerriss und sie genau wusste, dass ihr Bruder sich für diese Worte eine gefangen hatte. Das Geraschel vom Stoff erklang, bis sie Matteo im Durchgang des Speisezimmers erblicken konnte - dieser hatte sie auch sofort mit seinen himmelsblauen Augen erfasst. Seine Wange war gerötet, das Gesicht in einem Anflug von Zorn verzogen, während er seine Schwester anstarrte. Die Weißhaarige allerdings hob nur leicht die Schultern an, was konnte sie auch dafür, dass er sich jedes Mal so dämlich für sie einsetzte? Die Geste ihrerseits führte zu einem verärgerten Schnaufen und ihr Bruder rauschte an ihr vorbei in Richtung der Privatgemächer. So zornig wie ihr Vater nun war, war es allerdings eine unkluge Wahl sich diesem zu diesem Zeitpunkt zu stellen und so machte sie ebenso kehrt, um sich vom Gebrummel und Genuschel im Speisezimmer zu entfernen.
Ein dummer Versuch von Matteo, natürlich hatte sie gewusst, dass es ein Argento gewesen war, die Schnösel der hohen Familien waren zumeist direkt zu erkennen und so war es auch bei diesem gewesen. Am Ende interessierte es sie aber ganz und gar nicht, der Kerl war zum richtigen Zeitpunkt am richtigen Ort gewesen und dass er zu einer anerkannten Familie gehörte, war nur ein zusätzlicher Dorn im Auge ihrer Familie. Je schlechter der Ruf, desto besser würde es sich leben lassen - zumindest in ihrer Vorstellung.

Mit einem trägen, aber zufriedenem Gefühl im Körper warf sie sich in ihr Bett, ein paar Stundenläufe hätte sie noch, ehe ihre Mutter ungehalten in ihr Zimmer hereinbrechen würde, um sie mal wieder mit ihren Taten zu konfrontieren. Ein paar Stundenläufe noch Ruhe und Zufriedenheit.
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Kalea H. Kranhain
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Re: Nachtschwärmerin

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Und es treiben mich Gewalten
ihm entgegen, und er sinkt –
und ein Quellen, ein Entfalten
seines Scheines nimmt und bringt

und erlöst mich in die Zeiten,
da noch keine Menschen sahn,
wie durch Nächte Sterne gleiten,
wie den Seelen Rätsel nahn.

Richard Dehmel


~ 5 Jahre zuvor ~

»Das Kleid verdeckt die Narbe...«

Die Worte der Frau drangen nur entfernt an die Ohren der Weißhaarigen, die wieder einmal zu -dieser- Zeit des Jahres im Ankleidezimmer stand und mit missmutiger Mimik ihr eigenes Spiegelbild betrachtete. Eine schlichtere Variante des Nachtfalterkleides bedeckte in einem hochgeschlossenen Schnitt die athletischen Linien ihres Körpers und versteckte alles, was sich darunter befinden würde - klassisch, denn zu viel Haut zu zeigen, war selbst in Istraym eher ein Grund zum Tuscheln. In einer grüblerischen Geste hob sie die rechte Hand an, um mit den Fingern über die Stelle des Herzens zu streichen, dort wo die prägnante Narbe über die letzten Mondläufe ihren Platz gefunden hatte. Das Resultat ihres Aufbegehrens, ein Angriff aus den eigenen Reihen. Sie hätte es wissen müssen, genug ist irgendwann halt genug und sie ärgerte sich mehr über ihre eigene Naivität als über die Existenz des Beweises.
“Schau immer hinter dir, lass niemals deine Deckung fallen, im Schatten kann jederzeit eine Gefahr lauern."
Wie oft hatte Matteo ihr dies gesagt? Zu oft… aber offenbar entweder doch nicht oft genug, oder sie hätten ihren älteren Bruder einfach ernster nehmen sollen. Noch ein Punkt, der sie ärgerte, denn wenn es etwas gab, was sie nicht leiden konnte, dann war es im Unrecht zu sein.
Sie spürte eine Hand auf ihrer Schulter, eine vertrauensvoll anmutende Geste, die sie aus ihren Gedankengängen riss und als sie den Kopf drehte, konnte sie in das hellblaue Augenpaar von Cinzia schauen, das sie fast ein wenig besorgt wirkend betrachtete.

»Das ist mir egal.«

Die eigenen, verzögerten Worte drangen mit einem milden und beruhigenden Lächeln über die Lippen - denn das war es ihr tatsächlich. Wohl steckte sie die schwarzhaarigen Vallardi damit an, denn ihre Mimik glättete sich wieder und als Nächstes fühlte sie die Berührung ihrer Lippen auf ihrem Schulterdach. Sie platzierte die Hand auf ihre, besah sich Cinzia noch einen Moment mit einem unguten Gefühl in der Magengegend und atmete schließlich mit einem Nicken tiefer durch. Nicht, weil sie nicht froh war, sie an ihrer Seite zu haben, sondern weil das Familientreffen bevorstand und es hieß, neben der äußeren Maske nun auch die unsichtbare zu tragen.

»Wir schaffen das heute Abend schon.«

»Natürlich… haben wir immer geschafft, mhm?«

Ein kleines Zucken der Lippen, als sich ein flüchtiges Schmunzeln auf der Mimik der Weißhaarigen auszubreiten schien und Cinzia nickte sogleich feste. Die Schwarzhaarige gehörte zu einem Zweig der Familie, der gut und gerne mal ein falscher Falter bezeichnet wurde, denn es hielten sich hartnäckige Gerüchte innerhalb, dass das Blut der Vallardis dort schwach oder gar nicht erst vorhanden sei. Es gab nicht einmal einen Stammbaum, der irgendwie eine Verbindung zu den anderen feststellen konnte. Allerdings war das nüchtern betrachtet ein fadenscheiniges Argument, denn unter den Familienzweigen gab es selten tief reichende Stammbäume oder Nachweise, dass sie alle das gleiche Blut teilen würden - auch wenn eine weißblonde Haarpracht immer wieder gerne als -das- Erkennungsmerkmal von den Ältesten genannt wurde. Dass sich Cinzias Familienzweig so hartnäckig über die Generationen gehalten hatte, war schlicht der Tatsache geschuldet, dass sie einen gewissen Einfluss im Bereich des Schwarzmarktes hatten und die Hand über ein Weinbrand Rezept hielten, was in den vallardischen Tavernen äußersten Anklang fand. So versuchte eben jeder irgendwie von Relevanz zu sein - denn war man das nicht, war man wertlos und dann würde man sich in einer Situation wiederfinden, in der Ginessa sich vor knapp einem halben Jahreslauf befunden hatte. Der Dolch an der Brust, gehalten durch ein Familienmitglied.

Ginessa hatte Cinzia kurz nach diesem Angriff näher kennengelernt. Natürlich hatte man sich jährlich bei den Familientreffen gesehen, oder auch so mal bei einem Anlass, aber die Weißhaarige zählte nicht unbedingt als geselliger und nahbarer Mensch. Erst als sie durch die eigene Familie entledigt werden sollte, fand man zueinander und stellte schnell fest, dass es einige Ähnlichkeiten darin gab, wie man zu diesen ganzen Traditionen stand. Cinzia allerdings schien wesentlich sanftmütiger Natur zu sein, weniger rebellisch oder öffentlich aufmüpfig. Sanftmütig, aber nicht weniger vallardisch erzogen, als jede andere Frau in den eigenen Reihen. Sie versuchte sich eher mit dem Wesen der Vallardis zu arrangieren und unter dem Deckmantel der Schweigsamkeit für sich den besten Platz zu finden, in dem sie Aufgaben und Lehren in nahezu vorbildlicher Manier lebte - für das Auge der Familie. Natürlich ermutigte Ginessa sie, hier und da sich nachts davonzuschleichen, aber seitdem sie nur knapp mit dem Leben davon gekommen war, hatten ihre Verfehlungen an Zahl deutlich abgenommen. Die Schwarzhaarige war die willkommene Abwechslung geworden, die sie gebraucht hatte, um der Trostlosigkeit des Alltags zu entkommen, ohne in die bunten Nächte Yhams einzutauchen. Eine willkommene, aber keineswegs eine unbedingt einfachere Abwechslung, denn ernsthafte Beziehungen und Gefühlsduseleien waren den Ältesten der Familie ein stechender Dorn, der gezogen werden musste.

Die beiden Frauen hatten für sich allerdings den perfekten Weg gefunden. Durch die vorbildliche und sanftmütige Art Cinzias nahm man offenbar nicht an, dass hinter der gemeinsamen Zeit mehr steckte, als eine familiäre Freundschaft und Ginessa wusste, dass ihre Mutter es gar hoffnungsvoll betrachtete. Als würde sie glauben und hoffen, sie würde einfach “mehr” wie die Schwarzhaarige werden. Ein absurder Gedanke, aber sie bestätigte ihre Mutter natürlich gerne darin, indem sie die ein oder andere Veranstaltung in gar vorbildlicher Manier besuchte. Den Schein zu wahren, war wichtiger denn je. Der nächste Angriff auf ihre Person würde vielleicht weniger glücklich für sie auslaufen.

»Was tun wir, wenn einer von uns ausgesucht wird?«

Die Worte von Cinzia rissen Ginessa erneut aus den Gedanken und ein mehr amüsiert-vorwurfsvoller Blick wurde zur Schwarzhaarigen gerichtet. Die Finger, die noch immer auf ihrer Schulter ruhten, drückten die ihren sanft und der Kopf schüttelte sich nur ein klein wenig.

»Ich denke nicht, dass wir uns dieses Jahr darüber Gedanken machen müssen. Nicht bei meinem Ruf und bei dir…«

»Was?«

Eine Augenbraue schnellte bei Cinzia hinauf und auch bei ihr zeichnete sich nun ebenso ein kleines, amüsiertes, aber irgendwie auch vorwurfsvolles Schmunzeln ab, als wäre sie sowieso nicht in der Lage, der Weißhaarigen irgendwie böse zu sein. Ginessa schwieg für wenige Augenblick, während sie nur mit einem heiteren Ausdruck in die Mimik ihrer Freundin blickte und für einen kurzen Moment, war selbst der Umstand des Abends vergessen.

»Nichts, du bist perfekt, wie du bist. Jedoch kennst du unsere Ältesten.«

»Umso besser… dann haben wir noch ein weiteres Jahr Ruhe.«

Mit einem kleinen Lächeln auf den Lippen hob die Schwarzhaarige die, mit einem silbernen Ornamentsaum verzierte, Maske zwischen ihren Fingern etwas an, um Ginessa jene umzulegen. Sie hatte nicht mehr viel Zeit, bis das geschulte Gehör der Beiden die Schritte im Flur wahrnehmen würden. Nachdem das Bändchen unter dem typisch vallardisch geflochtenen Zopf zusammengeführt und die Maske ihren Sitz gefunden hatte, fanden die Lippen der beiden Frauen für eine kurze, aber nicht weniger liebevolle Berührung zueinander. Die vermutliche letzte für heute Abend, während sie wieder so tun mussten, als wären sie nichts, außer Bekannte.
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Kalea H. Kranhain
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Wie das Meer ist die Liebe -
unaufhörlich, unergründlich, unermeßlich:
Woge um Woge drängend getrieben,
Woge um Woge wühlend verschlungen,
sturm-und-wettergeworfen nun, sonnelachend nun,
bebend nun dem Mond die rastlos wechselnde Fläche, –
doch in der Tiefe leises Fluten ewiger Ruhe,
unerschüttert, undurchdringlich dem suchenden Blick,
matt verdämmernd in nächtiges Dunkel, –
und in der Weite sanftes Wallen ewiger Ruhe,
unbewegt, unerfaßlich dem suchenden Blick,
still verschwimmend in Himmelslüfte, –
Ahnung der Unendlichkeit —
ist das Meer, ist die Liebe.

Richard Dehmel


~ 3 Jahre zuvor ~

Das große Walfangschiff hatte sich erst wenige Momente träge aus dem dichten Nebel des umliegenden Gewässers geschält, doch die Hafenkulisse Yhams war bereits in seiner ganzen Pracht im schwachen Schimmern der Mittagssonne zu beobachten. Trotz ihres Zenitstandes war die Wärme der Strahlen kaum zu spüren und das lag nicht nur am eisigen Meerwind, der das Segel mit dem Wappen der Nautilus-Gemeinschafts zur vollen Leistung aufblähte. In der ohnehin eher kalten bis milden Umgebung Istrayms läutete sich das Ende der offiziellen Schifffahrtszeit ein - die Zeit, wenn das Wetter bedingungsloser und es gerade für einfache Handelsschiffe, dem Fisch- oder Walfang zu gefährlich wurde. Eine Zeit des “Heimkommens” und oft eine Zeit, die in freudiger Erwartung lag, denn mit dem eiskalten Winterwind vom Meer, kamen auch all jene Heim, die über Monde auf offener See gelebt und gearbeitet hatten. Über wenige Wochenläufe hinweg wurden Feuerschalen an den äußersten Spitzen der Piers aufgestellt, ein Leuchtzeichen für alle, die ihren Weg in die Heimat suchten und den dichten Nebel Istrayms überwinden mussten.

Vor drei Mondläufen war sie mit der “Wellenlicht” in See gestochen, nicht nur um den Alltag Istrayms zu entfliehen, sondern auch um wie so oft einfach die Wildheit des offenen Meeres zu genießen. Drei Mondläufe fern der Heimat, zwischen hohen Wellen, bei Sturm und Sonnenschein, auf fremden Inseln, mit Menschen, die sie aus der Nautilus-Gemeinschaft nur zu gut kannte. Hier draußen hatte sie immer das Gefühl, dass die Welt in Ordnung war. Seefahrer waren zumeist ein Völkchen, die das Wort auf der Zunge trugen, keine Versteckspiele, keine Ränkespiele und hier zählte nur das, was jeder tatsächlich mit seinen eigenen Händen anrichten vermochte. Zog man im Sturm nicht Hand in Hand an einem Strang, war auch das eigene Leben in Gefahr. Natürliche beobachtete die Weißhaarige auch hier den Schatten, man konnte nie wissen, aber es war friedlicher und einfacher, als es in Istraym jemals für sie sein würde. In manchen Nächten, wenn die Nacht klar und das Sternenzelt deutlich zu beobachten war, fragte sie sich, wie es Cinzia gehen würde, aber es war keine quälende Sehnsucht in ihrem Herzen - sie war es gewohnt, lange Zeit fern jener zu sein, die ihr etwas bedeuteten... auch wenn es davon nicht viele gab. Keine quälende, aber durchaus eine unterschwellige, präsente Sehnsucht, die sie sich nun, da sie Istraym wieder näher kamen, in den Vordergrund schob. Sie freute sich darauf, die Schwarzhaarige wieder in ihren Armen halten zu können und auf all die neuen, absurden Geschichten, die sie ihr zu erzählen hatte.

Viele Istraymer befanden sich zu dieser Stunde in Yham und die meisten davon waren hier, um ihre Liebsten von der offenen See wieder empfangen zu können, fast einer kleinen Tradition gleich. Es dauerte allerdings noch einige Stunden, bis die Wellenlicht geankert und entladen war. Kistenweise Walfisch, Elfenbeinzähne, Fischöl und andere Ressourcen, die sie über die letzten Mondläufe sammeln konnten und jetzt darauf warteten auf dem nächsten Markt verkauft zu werden. Das vertraute Gesicht der schwarzhaarigen Vallardi konnte sie in der Masse der Menschen nicht ausmachen, dafür aber das Gesicht ihres Bruders. Das prüfende Gesicht. Er wollte wohl sichergehen, dass sie wirklich heimkehrte. Dass sie Cinzia nicht am Hafen erblickte, beunruhigte oder wunderte sie jedoch nicht. Sie hielten sich immerhin äußerst bedeckt, je weniger man sie zusammen in der Öffentlichkeit sah, desto weniger Grundlage für Gerüchte würde es geben. Was die Weißhaarige aber wusste, war, dass Cinzia durchaus darüber informiert sein würde, dass die Wellenlicht angekommen wäre und wie immer, würden sie sich am Abend der Ankerung im blauen Leuchtturm Yhams treffen. Einer der wenigen Treffpunkte, die sie hatten, wo sie sich sicher sein konnten, unbeobachtet zu bleiben.

Der Himmel hatte schon seine nachtblaue Färbung angenommen und die Sterne standen als schimmernde Wegweiser am Firmanent als sie die Schritte, während sie hoch oben im Leuchtturmzimmer am Fenster stand, hinter sich wahrnahm. Leichtfüßige, leise Schritte. Schritte, die sie nur zu gut kannte und ihr bereits ein Lächeln auf die Lippen drängten und das Kribbeln in ihrer Magengegend hervorriefen. Kaum hatte sie sich umgedreht, konnte sie auch schon in das hellblaue Augenpaar Cinzias blicken, die ihr vermutlich mit einem genauso breiten Lächeln entgegenblickte, wie es auf ihren eigenen Lippen ruhte.

»Du hast dir Zeit gelassen.«

Ein sanft neckender Unterton ruhte in den gespielt vorwurfsvollen Worten der Schwarzhaarige und resultierten bei Ginessa nur in einem amüsierten Schnaufen. Sie hob die Hände einer abwehrenden Geste gleich an und setzte eine unschuldige Mimik auf, während Cinzia sich ihr mit raschen Schritte näherte, als würde sie nicht noch mehr Zeit verschwenden wollen, ohne die Nähe ihrer Geliebten zu fühlen.

»Kapitän Verano wollt’ unbedingt noch die eine Kiste vollmach’n, dafür kann ich nich’s!«

»Nun bist du immerhin da.«

»’S bin ich, den ganz’n Herbst und Winter über.«

Bestätigte sie mit einem sanftmütigen Lächeln, während sie die Hand hob, um jene in einer zuneigungsvollen Geste auf die Wange der Schwarzhaarigen zu platzieren, als könnte sie in diesem Moment nicht dem Verlangen widerstehen, sie einfach zu berühren. Sie fühlte die feingliedrigen Finger jener auf ihrer Taille, während sie Körper ein wenig näher zueinander fanden und für einige Herzschläge hielten beide einfach nur den Blickkontakt aufrecht, bis die Sehnsucht endlich gestillt werden konnte.

~•~

»Nächste Woche is' es wieder soweit. Nur ein Abend, wie immer und danach hab'n wir wieder unsere Ruh'. Wir könnt'n im nächsten Wochenlauf den Herbstmarkt besuch'n.«

Während sie auf dem Bauch in den Fellen lag, drangen die sinnierenden Worte über ihre Lippen, während sie die Schwarzhaarige hinter sich wahrnahm, die in unregelmäßigen Abständen ihre Lippen noch auf ihren Rücken drückte, als könnte sie selbst jetzt, wo sie der Sehnsucht nachgegeben hatten, nicht gänzlich die Finger voneinander lassen. Ihre eigenen Worte führten zu einem mehr resignierenden Seufzen und das Gesicht vergrub sich für einen tieferen Atemzug halb in den langen Strähnen des Fells, als ihr der Umfang des kommenden Familientreffens wieder bewusst wurde.

»Mhmm.«

Kam es nur leise von Cinzia, vermutlich weil jene für den Augenblick zu abgelenkt damit schien, ihre Finger an Ginessas Rücken entlang wandern zu lassen, was zu einer zarten Gänsehaut führte. Ein mehr verräterisches Zucken schlich sich in die Mundwinkel der Weißhaarigen, während sie ihren Kopf so anhob, dass sie über ihre Schulter zu ihr blicken konnte. Eine Augenbraue zog sich sacht hinauf und neckend ruhte der Blick auf ihrer Freundin.

»Hörst du mir zu?«

Mit einem amüsierten Zucken in den Mundwinkeln betrachtete sie Cinzia, die nun sacht die Lippen schürzte und höher an ihrem Körper krabbelte, bis sie ihre Lippen auf ihrer Wange spüren konnte. Schließlich erklang die Stimme der Schwarzhaarigen leicht gedämpft, aber mit einem belustigten Unterton im Raunen.

»Natürlich. Familientreffen, blöd. Herbstmarkt im nächsten Wochenlauf. Ich hatte so lange nichts von dir, da musst du ein wenig Nachsicht üben.«

»Ahh… Verzeih mir, dass ich es gewagt hab', eine Unterhaltung anzufang'n!«

In Verbindung mit einem Lachen drehte Ginessa sich wieder auf den Rücken und sogleich befand sich Cinzia mit einem vorwurfsvollen Ausdruck auf den feinen Gesichtszügen über ihr, während ihre Finger an ihrer Flanke hinauf bis zum Hals wanderten. Der Schwarzhaarigen war offensichtlich nicht danach zu reden, denn als die Lippen erneut zusammenfinden, entfachte es sie abebbende Leidenschaft von Neuen. Eine lange Nacht, die erst in den Morgengrauen ihr Ende fand und beide wieder die Maske aufsetzen mussten, die sie für ihre Familie zu tragen hatten.
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Kalea H. Kranhain
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Re: Nachtschwärmerin

Beitrag von Kalea H. Kranhain »

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Es trifft Freude, trifft Schmerz
mit Pfeilen beide unser Herz.
Doch Freude trifft nur wie zum Spiel,
der Bolzen haftet nicht am Ziel.
Des Schmerzes Pfeil, den der durchdrang,
der schleppt ihn nach sein Leben lang.

Friedrich Halm


~ 2 Jahre zuvor ~

Sie hatte ihren Fokus starr auf der Tischkante verankert, in der Hoffnung das Chaos in ihrem Inneren unter Kontrolle zu halten, während das Herz ihr unangenehm bis zum Hals hinauf schlug. Ein Pochen und ein Kratzen, ein Rasen in ihren Ohren. Eine unangenehme Hitze macht sich unter ihrem Kleid breit, der Stuhl wurde so unbequem, dass sie das Bedürfnis hatte aufspringen, um dem Kribbeln und Fiebern in ihren Gliedern nachzugeben.
Ein kleines, sehr subtiles Räuspern zu ihrer Linken riss sie aus ihrem Starren heraus. Matteos Blick, der Blick ihres Bruders, harrte auf ihrem Profil, unmissverständlich mahnender Natur, ihm war die veränderte Körperhaltung seiner Schwester nicht entgangen. Sie erwiderte seinen Blick für wenige Herzschläge, bis sie ihren Blick durch den großen Raum schweifen ließ. Fünf große Tische befanden sich aufgereiht im Raum, ausgerichtet auf einem wesentlich kleineren, der Tisch, an dem die Oberhäupter der fünf Zweige saßen. Sie unterhielten sich, diskutierten, doch der Inhalt ihrer Worte drang seit der Eröffnung der Themen nur als meeresgleiches Rauschen an ihre Ohren heran. An den anderen Tischen saßen die Familien, so wie sie an dem Tisch ihres Zweiges saß und auch hier hörte sie das ein oder andere Genuschel, aber auf keines davon konnte sie sich konzentrieren.

Sie spürte den beobachtenden Blick von Matteo noch immer auf sich, ein prüfender und bohrender Blick, als würde jener sichergehen wollen, dass sie nicht aus dem Rahmen fallen würde. Der Blick beunruhigte sie eher, als dass es das Pochen und Brennen in ihrem Inneren besänftigte und es wurde erst besser, als ihr Augenmerk sich auf Cinzia verankern konnte. Die schwarzhaarige Vallardi saß zwei Tische entfernt und durch die Nähe zu ihr, konnte Ginessa erkennen, dass ihre Haltung angespannter war als sonst. Cinzia starrte zum Tisch der Oberhäupter, dabei war die Weißhaarige sich sicher, dass ihre Gedanken genau so sehr kreisen mussten, wie die eigenen. Als würde sie den Blick spüren, drehte Cinzia den Kopf und fing Ginessas Blick durch den Raum auf. Die Mimik der beiden veränderte sich unmerklich und sie wussten, dass sie gerade beide das gleiche Gefühlschaos teilten, allerdings wurde der Blickkontakt je unterbrochen, als der Bruder der Schwarzhaarigen, Luciano, sich in deren Richtung neigte, um irgendetwas zu flüstern.

»Somit ist es beschlossen!«

Die Stimme von Konstantinus, dem Ältesten aller Oberhäupter, schallte kräftig durch den Raum und riss somit die gesamte Aufmerksamkeit in diesem auf sich. Sein gesamtes Auftreten war von einer gewissen Würde, aber auch unterschwelliger Brutalität gezeichnet - etwas, das schwer zu greifen und doch vorhanden war, als wäre es schlicht Teil seiner Präsenz. Sein Zweig galt als der Älteste unter den Vallardis und nur selten widersprach man ihm, er hatte etwas an sich… etwas Ungutes.

»Zu einem werden wir im nächsten Jahreslauf versuchen, eine neue Handelsroute zu erschließen. Quellen geben an, dass die Argentos wohl bereit sein könnten, sich auf einen Handel einzulassen, wenn er diesen ebenso gewinnbringend erscheint. Jegliche Informationen über die Silberschlangen soll daher an die Oberhäupter übermittelt werden, Marcello wird hier federführend sein.
Eine neue Bindung wird noch vor Ende des Winters eingegangen werden, es wurde beschlossen, dass Angeliquas Enkeltochter, Cinzia, die Ehre haben wird, die Verbindung mit dem aufstrebenden Bastler- und Maskenmeister Jaques Trabarde aus Uchence einzugehen.
Des Weiteren wird diesen Winter und für das kommende Jahr vermehrt darauf geachtet werden müssen, dass ein gewisser Ruf erhalten bleibt. Die Berichte über die aufmüpfige Straßenbande aus Yham werden nicht länger toleriert werden. Mein Enkelsohn Leano wird hierfür auf die anderen Zweige zukommen, um dem Treiben Einhalt zu gebieten. Gliedert sie ein oder beseitigt sie. Andere Ergebnisse werden nicht geduldet.«


Die Stimme von Konstantinus war so scharf und klar, dass sich ihre Nackenhaare aufstellten, doch in der Mehrheit der Gesichter der Anwesenden sah sie Zufriedenheit. Leano schien sich förmlich auf den Auftrag zu freuen, ihr Vater, Marcello, war bereits mit ihrem Bruder in einem Gespräch und sie vernahm nur stückchenhaft, dass es um die Argentos ging. Ihr Fokus lag auf Cinzia, deren Gesichtszüge zwar gefasst wirkten, doch erkannte Ginessa die Traurigkeit und die vage Verzweiflung darin. Das war der Tag, vor dem sie sich all die Jahre gefürchtet hatten. Der Tag, an dem die Familie dafür sorgen würde, dass sie auseinander gerissen werden würden. Und doch traf es sie unvorbereitet, wie ein gut gezielter Schlag in die Magengegend, das üble Gefühl und den fahlen Geschmack im Mund konnte sie den gesamten Abend über nicht loswerden.



~ Wenige Tage später ~

»Wir könnten einfach abhauen?«

Obwohl sie den Vorschlag ernst meinte, entlockte er Cinzia nur ein kleines, wenn auch nicht sonderlich fröhlich wirkendes Lachen. Die Reaktion förderte ein Brummen zutage und mit einem missmutigen Blick lenkte Ginessa ihren Blick hinaus auf das nächtliche Stadtbild, der Hafenlandschaft im schummrigen Schein der Kohlepfannen und dem still daliegenden Meer. Hier, vom Leuchtturmzimmer aus, konnte man stets alles überblicken.

»Wir wussten, dass dieser Tag kommt, Gin. Wir sind für unsere Familie geboren und wir sterben für unsere Familie. Das solltest du eigentlich noch mit am besten wissen. Es gibt kein Entkommen, selbst wenn wir abhauen würden, würde man uns finden.«

Sie nahm wahr, wie Cinzia neben sie trat, so nah, dass ihre Arme sich berührten und die Nase der Weißhaarigen kräuselte sich unzufrieden. Auch wenn sie die Wahrheit in den Worten der Freundin erkannte, wollte sie jene nicht wahrhaben. Sie griff mit den Fingern nach ihrer Hand, damit jene sich miteinander verschränken konnten und ein nun mehr mattes Lächeln, von Müdigkeit und Resignation geprägt, formte ich auf ihren Lippen.

»Du kommst mich in Uchence besuchen und vielleicht finden wir andere Wege, das, was wir haben, zu erhalten.«

Der Vorschlag der Schwarzhaarigen führte zu einem kleinen Seufzen der Weißhaarigen und ihr Blick lenkte sich erst zu ihrem Profil, den vertrauten, blassblauen Augen, ehe sie aber wieder die nächtliche Landschaft betrachtete.

»Vielleicht, ja. Bisher haben wir immerhin immer einen Weg gefunden.«

»Eben, bisher haben wir immer einen Weg gefunden.«

Trotz der Zuversicht, die Cinzia versuchte in ihre Stimme zu legen, vernahm Ginessa den zweifelnden Unterton und sie konnte ihn nachempfinden. Beide wussten, das nicht sonderlich viel Wahrheit in den Worten lag, sondern vielmehr drohende Gefahr.



~ Wenige Mondläufe später ~

Es war einer der Nächte, in denen sie sich im Leuchtturm treffen würden. Etwas, was sie über die letzten Mondläufe unregelmäßig hinbekommen hatten, trotz des Risikos und der Gefahr, die damit einherging. Ein kleiner Trost, ein kleiner Hoffnungsfunke und dafür hatte Ginessa verzichtet, mit dem kommenden Jahr erneut auf das Meer hinauszufahren. Mit raschen Schritten waren die endlosen Stufen des Leuchtturmes überwunden und das Zimmerchen weit oben erreicht. Es war leer, erstmal nicht außergewöhnlich, Cinzia kam oft später, so wie sie es schaffte aus Uchence zu verschwinden, seitdem sie die Bindung eingegangen war. Allerdings fiel Ginessa diesmal ein beschwertes Pergament ins Auge, das dort am Fensterchen sacht im Wind zappelte. Die Stirn krausend schritt sie zum Fenster, um das Pergament unter dem Stein hervorzuholen, damit sie es ausrollen und lesen konnte.

“Alles nähert sich dem Ende, alles geht vorbei, das weißt du, das weiß ich. Allerdings bringe ich es nicht über mein Herz, es dir zu sagen. Vielleicht hast du es bereits gemerkt, vielleicht habe ich es durchblicken lassen, doch das, was mir auferlegt wurde, stellt sich nicht als Qual oder Last heraus. Eine gute Wahl, ein gutes Heim, etwas Gutes, was es nicht verdient hintergangen zu werden, so sehr ich auch die Gemeinsamkeit vermisse. Ich hoffe für dich, dass du das gleiche Glück erleben wirst, irgendwann. Stell dich nicht so quer, du weißt, es ist einfacher, wenn man mit dem Strom schwimmt. Riskiere keine weitere Narbe.”

Keine Anrede, keine Unterschrift, kryptische Worte, aber für Ginessa war es eindeutig. Ein dicker Kloß machte sich in ihrem Hals ein Heim und erneut fühlte sie die aufkeimende Unruhe in ihrem Inneren, die Wut, die sich wie Feuer durch ihre Adern kämpfte, aber auch die Verzweiflung, die sich im salzigen Nass aus ihren Augen drängte. Die Finger verkrampften sich um das Pergament, es würde später zu den Flammen finden, damit jeder Hinweis vernichtet werden würde und somit würde nichts mehr übrig bleiben, was jemals von den Beiden erzählt hätte. Sie hätte doch aufs Meer hinausfahren sollen.
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